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Freitag, 24. März 2017

Lyrik von Erich Fried (1921-1988) (aus Blog von 13. Juni 2012)

Was geschieht 

 

Es ist geschehen
und es geschieht nach wie vor
und wird weiter geschehen
wenn nichts dagegen geschieht.

Die Unschuldigen wissen von nichts,
weil sie zu unschuldig sind
und die Schuldigen wissen von nichts,
weil sie zu schuldig sind. 

Die Armen merken es nicht,
weil sie zu arm sind
und die Reichen merken es nicht,
weil sie zu reich sind. 

Die dummen zucken die Achseln,
weil sie zu dumm sind
und die Klugen zucken die Achseln,
weil sie zu klug sind. 

Die Jungen kümmert es nicht,
weil sie zu jung sind,
und die Alten kümmert es nicht,
weil sie zu alt sind. 

Darum geschieht nichts dagegen
und darum ist nichts geschehen
und geschieht nach wie vor
und wird weiter geschehen. 

Erich Fried*


Gegen Vergessen 

 

Ich will mich erinnern
dass ich nicht vergessen will
denn ich will ich sein 

Ich will mich erinnern
dass ich vergessen will
denn ich will nicht zuviel leiden 

Ich will mich erinnern
dass ich nicht vergessen will
dass ich vergessen will
denn ich will mich kennen 

Denn ich kann nicht denken
ohne mich zu erinnern
denn ich kann nicht wollen
ohne mich zu erinnern
denn ich kann nicht lieben
denn ich kann nicht hoffen
denn ich kann nicht vergessen
ohne mich zu erinnern 

Ich will mich erinnern
an alles was man vergisst
denn ich kann nicht retten
ohne mich zu erinnern
auch mich nicht und nicht meine Kinder 

Ich will mich erinnern
an die Vergangenheit und an die Zukunft
und ich will mich erinnern
wie bald ich vergessen muss
und ich will mich erinnern
wie bald ich vergessen sein werde 

Erich Fried*


Meine grossen Worte 

 

werden mich nicht vor dem Tod schützen
und meine kleinen Worte
werden mich nicht vor dem Tod schützen
überhaupt kein Wort
und auch nicht das Schweigen zwischen
den großen und kleinen Worten
wird mich vor dem Tod schützen 

Aber vielleicht
werden einige
von diesen Worten
und vielleicht
besonders die kleineren
oder auch nur das Schweigen
zwischen den Worten
einige vor dem Tod schützen
wenn ich tot bin

Erich Fried*

Als kein Ausweg zu sehen war

 

Die umherirren
und sagen noch
daß sie wissen
daß sie umherirren
und daß sie noch sagen wollen
was sie in ihrem Umherirren sehen
wenn sie
noch etwas sehen
die haben noch etwas zu sagen 

Nämlich daß sie nichts sehen
wenn sie nichts sehen
und daß sie etwas sehen
wenn sie etwas sehen
und daß sie umherirren
weil sie nicht wissen wo
oder ob überhaupt noch
ein Weg der kein Irrweg ist
ist

Und vielleicht ist dann ihr Umherirren gar kein so arges 

Umherirren wie das derer die nicht sagen
daß sie wissen daß sie umherirren
und die nicht sagen wollen was sie dabei sehen
oder wenn sie nichts sehen nicht sagen wollen
daß sie nichts sehen
weil sie nicht sehen wollen
daß sie umherirren
und daß es vielleicht gar keinen Weg gibt

Erich Fried*


* Erich Fried (1921-1988), österreichischer Lyriker, Übersetzer für englische Literatur und Essayist.
Geboren in einer jüdischen Familie in Wien besuchte er das Gymnasium am Alsergrund. Sein Vater starb 1938 bei einem Verhör durch die Gestapo, es folgte die Emigration nach London. Dort schlug er sich mit Gelegenheitsarbeiten durch und arbeitete 1952-1968 als Kommentator für den "German Service" der BBC. Aus drei Ehen gingen fünf Kinder hervor. Fried engagierte sich als junger Mann für den stalinistischen Kommunismus und Antifaschismus, dann für die deutsche 1968-er Bewegung und war Mitglied der deutschen "47-Gruppe" von Schriftstellern. Ab 1968 lebte er als geachteter und beachteter Mann von der Schriftstellerei vor allem in Deutschland und behandelte in Lyrik und Essays die politische Themen, Liebe, Tod und eigene Reflexionen. 1988 starb er in Baden-Baden an Darmkrebs und wurde auf dem Londoner Friedhof "Kensal Green" beigesetzt. (vgl. dazu: Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/Erich_Fried, vom 13.06.2012).

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